Heimweh kennt kein Alter

Meine Schwester sitzt in L.A. am Strand und hat extrem schlechte Laune. Die Sache mit Kalifornien hat sie sich irgendwie anders vorgestellt. Als wir telefonieren, rauscht es im Hintergrund. Nicht etwa das Meer, die Autobahn: sechsspurig! Man darf für seinen Ausflugstag am Strand weder Essen noch Getränke mitbringen, Rauchen und Alkohol kann man allgemein vergessen, zum Surfen ist es noch zu kalt. Aber das ist es nicht einmal, was sie so stört. Auch nicht, dass alles das Zehnfache kostet und nicht mal die Hälfte wert ist. „Hier ist einfach alles Fake, wirklich alles“, erklärt sie entsetzt und hustet in ihr Smartphone. „Das Essen, die Häuser, die Menschen, einfach alles.“ Aber nicht nur das Essen hinterlässt einen faden Geschmack. Sie sind durch Asien und Afrika gereist, in Amerika nehmen beide über fünf Kilo ab. In zehn Tagen.

Es tut mir unendlich leid. Ich weiß, wie groß ihre Sehnsucht nach diesem Ort war. Seitdem sie 13 ist, wollte sie schon immer noch L.A. – 17 Jahre später feiert sie dort ihren 30. Geburtstag am Strand und wünscht sich lieber zurück nach Hause, nach Neapel. Heimweh. Manchmal passiert einem das. Sie hatten einfach die Entfernung unterschätzt: geografisch wie kulturell. Das kann einem überall passieren: Dann steht man also eines Tages endlich in Marrakesch, in New York, in Tel Aviv, in Florenz, in Peking, am Schwarzen Meer, in Reykjavik, in Lissabon, in Berlin an diesem entfernten Ort, nach dem man sich schon lange gesehnt hatte, und ist einfach nur enttäuscht. Natürlich, weil man sich selbst getäuscht hat. Weil man sich täuschen lassen wollte. Weil Reisen mehr als eine Postkarte ist. Weil die Phantasie eben doch besser ist, als die Wirklichkeit. Nur bräunen kann man sich in ihr noch nicht.

Die Japaner haben einen Namen dafür. Sie sprechen vom Paris-Syndrom, wenn die Erwartung eines Reisenden mit der Realität des Ziels so stark auseinanderfällt, dass sich sogar eine vorübergehende psychische Störung einstellen kann. Da man schließlich kein kleines Kind mehr ist, weint man sein Heimweh nur ganz leise ins Kopfkissen und versucht das Beste aus der Situation zu machen. Darf dann nur nicht regnen, das spült die Stimmung gleich wieder auf unter Null. Meine Schwester denkt an Mexiko. Dort war sie vorher, da war es schön. Das Essen, die Maja-Ruinen, die Menschen. „Ich weiß ehrlich nicht, was wir hier in L.A. die letzten Tage gemacht haben.“ Sie seufzt und lächelt dabei ins Display. „Ich habe ja nicht einmal ein Buch dabei!“ Immerhin kann sie noch Lachen. Und ich denke: Zum Glück reist ihr nur zu zweit, ohne Kinder: Dann wird jede Reiseenttäuschung kombiniert mit schlechtem Wetter schnell zu einer extrem kostspieligen wie nervenaufreibenden Höllentortur. So viel Uno kann man gar nicht spielen.

Fremd sein. Fremder sein. Reisen bildet. – „Und der Rückflug?“ – „Geht erst in zehn Tagen!“ Immerhin kann man sich bei solchen Reisen vielleicht zu sich selbst finden. „Europa ist einfach am Geilsten“, ruft meine Schwester noch zum Abschied ins Telefon. Dann bricht die Verbindung ab.

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