„Kah-eins, Schwester Elisabeth“, trällert die ältere Dame fröhlich ins Telefon und wartet. „Moment, ich gucke.“ Sie schaut auf den Flur. „Hat sich die Frau Risse etwa schon aus dem Staub gemacht? Die hat doch normalen Dienst heute! Wir brauchen sie auch gleich hier. Jahaa, tschüsschen!“ Ein kurzer Blick zur Uhr, ein schneller Blick auf die weiß, blau verschmierte Tafel im Schwesternzimmer. 13.20 Uhr. Sie nickt zufrieden, heute läuft alles nach Plan. Außer, dass die Assistenzärztin verschwunden ist.
Es ist ein kalter Sonntag, draußen rieselt leise der Schnee. Auf der Kinderstation 1, kurz K1, im ersten Stock der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, ist es warm und laut. Auf dem Flur tobt ein Kind, irgendwo schreit ein anderes und das Telefon klingelt im Fünf-Minuten-Takt. Die Fenster sind noch liebevoll weihnachtlich geschmückt. Hinter großen Türen liegen in den Zimmern Kinder mit Tumor- und Bluterkrankungen – Stoffwechselkinder, Abklärungskinder oder Beobachtungskinder werden sie genannt. Ihre Krankheiten sind chronisch, manchmal tödlich, die Station ihre gewohnte Umgebung. Ihre Eltern können bei ihnen im Zimmer übernachten und ab und zu, wenn es die Werte erlauben, geht’s heim.
Schwester Elisabeth arbeitet seit 40 Jahren auf der K1, gehört sozusagen zum lebenden Inventar. Die große, grauhaarige Frau hat eine sehr freundliche, aber dominante Stimme. Sie lächelt viel und wird von den Kindern geliebt. Wenn die Station ein Herz hat, dann ist es Schwester Elisabeth. Sie hatte schon immer ein Helfersyndrom, sagt sie, wollte schon als junges Mädchen unbedingt Kinderkrankenschwester werden. „Ich gehe gerne zur Arbeit, doch, dass kann ich schon so sagen. Nur dass ich vieles von der Arbeit nach Feierabend auch mit nach Hause nehme“, sie seufzt. Mit den Jahren ist sie eine starke Frau geworden, ihre Ängste der Realität gewichen. „Gerade habe ich erfahren, dass der kleine Emre auf Intensiv verlegt worden ist. Und eigentlich muss ich jetzt gleich mal mit Frau Doktor Risse zum Ben. Der soll nämlich noch heute nach Hause.“
Ben blickt kurz auf, als Schwester Elisabeth, 62, und Schwester Susi, 41, mit Frau Doktor Risse, 29, im Schlepptau in sein kleines Zimmer treten. Alle tragen einen Mundschutz. Für Ben, der an Leukämie erkrankt ist, könnte der kleinste Schnupfen tödlich enden. Im Hintergrund, oder vielmehr Vordergrund, läuft der Fernseher – Toggo TV. Der Zweieinhalbjährige sitzt blass auf dem Bett und spielt gelangweilt mit seinen Autos. Ein trauriger Raum. „Mach ma Örniie!“ kreischt er und sieht die drei Frauen erwartungsvoll an. Das Quietsche-Entchen ist sein persönlicher Star, das Lied ein Muss, wenn man zu Ben ins Zimmer kommt. Mit geübten Handgriffen und flinken Fingern nimmt Frau Doktor Risse beiläufig Blut ab. Nachdem die Blutwerte da sind, wird eine Transfusion angehängt. „Blut läuft, Kochsalz läuft, Kind fit!“ Draußen wird es langsam dunkel.
16 Uhr. Elisabeth Ehresmann unterdrückt ein Gähnen. Gestern hatte sie Spätdienst, heute Zwischenschicht – es ist ihr achter Arbeitstag in Folge. Sie nimmt ihre Brille ab, um sie zu putzen. „Die Pflege ist ein wichtiges Mittel, um einen engen Bezug zum Kind und zu den Eltern aufzubauen“, erläutert sie. „Je besser man ein Kind kennt, desto mehr kann man ihm helfen.“ Sie gähnt leise. Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. „Zum Glück hatten wir längere Zeit keinen Palliativpatienten mehr – außer Emre geht es allen gut. Schrecklich – vor allem wenn muslimische Kinder sterben müssen.“ Sie schüttelt den Kopf. „Die trauern ganz anders, sehen den Tod des Kindes als Bestrafung.“
Sie zeigt das leere Zimmer von Emre. „Kinder kennen ihren Körper besser als wir Erwachsenen“, erklärt sie. „Die merken, wenn es soweit ist, verabschieden sich von allen, verteilen ihr Hab und Gut, ihr Spielzeug, denn sie wollen, dass man sich an sie erinnert. Das ist richtig unheimlich.“ Am Bettende liegt ein Teddy, ein heiß geliebter Fetzten, der anscheinend immer dabei war und nicht mit auf die Intensivstation durfte. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
Schwester Elisabeth notiert etwas in das schwarze Buch. Am Ende einer jeden Krankenakte wartet oft der Tod. 17 Uhr. Das Telefon klingelt wieder. Schwester Monica aus der Frühchenstation soll sich ab jetzt um Emre kümmern. „Oh je, das ist wirklich gemein. Die ist noch ganz jung und hatte noch nie mit austherapierten Patienten zu tun!“ Für Schwester Elisabeth ist es noch eine Stunde, dann wird sie ihren hellblau gestreiften Kittel ausziehen, ihre weißen Crocs in den Schrank stellen und als Elisabeth Ehresmann nach Hause fahren.
Am Flurende hängt eine kleine Galerie mit Fotos der verstorbenen Kinder, gemalten Bildern und Abschiedsbriefen. Trauer kann auch bunt sein. Maurice, Laura, Basti und die anderen – alle nicht älter als vier Jahre, ohne Haare und im Krankenhaus fotografiert. Trotzdem lachen die Kinder auf den Fotos, gucken wissend und nicht fragend in die Kamera. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Niemand!
(jk, Dortmund, Januar 2010)